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08. März 2023 - Cloppenburg Marienschule Oberschule i.k.T.

Bericht eines Zeitzeugen

08.03.2023 Stasi-Zeitzeuge R. Dellmuth zu Gast in der Marienschule

Einen Geschichtsunterricht der etwas anderen Art erlebten am heutigen Mittwoch die Schülerinnen und Schüler der vier zehnten Klassen der Oberschule Marienschule.

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Janes Buschenlange war es gelungen, den Referenten Julian Thieme von der Konrad-Adenauer-Stiftung gemeinsam mit dem Stasi-Zeitzeugen Rainer Dellmuth, der auch als Referent für politische Bildung an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen seit 1997 tätig ist, in die Schule einzuladen.

R. Dellmuth erklärte zunächst in einem kurzen geschichtlichen Abriss den Jugendlichen, dass das damalige Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Besatzungsmächten aufgeteilt wurde. Dabei fügte er die Zitate von Stalin „Geschichte schreibt der Sieger“ und von Walter Ulbricht „es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen alles im Griff haben“ ein. Dann folgten die Gründung der DDR und die Bildung der SED, der Einparteiendiktatur. Unter Einbeziehung seiner eigenen Biografie beschrieb der Zeitzeuge anschaulich die Überwachungsstrukturen des Ministeriums für Staatssicherheit, kurz Stasi, und das Leben in der ehemaligen DDR, welche den Schülern nur noch aus dem Geschichtsunterricht bekannt ist.

Rainer Dellmuth wurde 1948 in Berlin geboren. In der DDR erzogen ihn seine Eltern nach christlichen und demokratischen Wertvorstellungen. Schon als Schüler wurde er mehrfach zum Direktor zitiert, da er öffentlich seine Lehrer kritisierte. Als 17-jähriger geriet er durch "staatsgefährdende Äußerungen" in das Visier des Ministeriums für Staatssicherheit. Der damalige Realschüler begann eine Lehre als Drucker im grenz­nahen Osten von Berlin, von wo er täglich auf die vergitterten Fenster des westlichen Kreuzbergs schaute. Doch schon bald musste er seine Tätigkeit unterbrechen, da er 1967 wegen „hetzerischer Äußerungen“ zu einem Jahr Haft verurteilt wurde. Nach sei­ner Haftentlassung 1968 beendete er seine Lehre und entschied sich, sein Abitur zu machen. In der 12. Klasse wurde er erneut wegen „versuchten, ungesetzlichen Grenz­übertritts in besonders schwerem Fall“ verhaftet. Dellmuth wurde mit dem „Grotewohl­express“, dem Gefangenensammeltransportwagen der Deutschen Reichsbahn, einem zu DDR-Zeiten speziellen Reisezugwagen zur Verlegung von Gefangenen, von Jena über Gera nach Berlin transportiert und dort im Bereich des Alexanderplatzes inhaf­tiert. Diese Reise bezeichnet er als die schrecklichste Fahrt seines Lebens, da er auf engstem Raum mit Kriminellen sich den Platz teilen musste. Im November 1972 schob man R. Dellmuth im Zuge des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik ab. Bis dahin war seine Stasi-Akte auf über 1000 Seiten angewachsen.

Wenn es zunächst Anfang der 1960er Jahre noch körperliche Gewalt in der DDR gegenüber den Gefangenen gegeben hatte, so wurde in späterer Zeit nur Psychologie angewandt, um den Willen des Einzelnen zu brechen, zu zersetzen. Diese Form der Gewalt ist nicht nachweisbar. Die eigene Meinung war nicht gefragt und, so R. Dellmuth, „Big brother“ hörte rund um die Uhr mit. Unbedachte Äußerungen konnten einen Menschen schnell in Bedrängnis bringen. Es folgte eine Haftstrafe, wobei die Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden.

Der gebürtige Berliner Dellmuth nimmt die Jugendlichen durch seine Art zu reden und seinen Berliner Dialekt mit in eine vergangene, heute kaum vorstellbare Zeit. Dabei berichtet er immer wieder von indirektem Druck vom Kindergartenalter bis zum Sargdeckel und spricht damit auch die Bespitzelung der eigenen Bevölkerung nach innen an. Immer wieder zieht er auch Parallelen in der Struktur der DDR zur Zeit des Nationalsozialismus und fügt dazu Beispiele an.

Dellmuth nimmt kein Blatt vor den Mund. Ob Uniformierung, der Aufstand des 17.Juni oder der Mauerbau, der 75-jährige spricht alle Themen an und erwähnt, dass der Westen immer als das Böse dargestellt wurde. Abschließend verweist der Zeitzeuge darauf, dass es auch heute noch Diktaturen in der Welt gibt. Diktatur lebt mit der Angst der Menschen. Die Geschichte vergleicht er mit einer Sinuskurve und fordert die Jugendlichen auf, die Demokratie zu schützen, denn sie ist unser höchstes politisches Gut.

In einem 6- minütigen Kurzfilm stellt R. Dellmuth die Gedenkstätte Hohenschönhausen vor, eine ehemalige Untersuchungshaftanstalt der Stasi in der DDR und mit dem Auszug aus dem Film „Mauerflug“ folgt er dem Grenzverlauf durch Berlin bis zum ehemaligen Westberliner Kontrollpunkt „Drei Linden“ an der Transitautobahn durch die DDR.

Am Ende seiner Ausführungen appelliert der Zeitzeuge an die Schüler*innen, sich weniger von Äußerlichkeiten und Materialismus blenden zu lassen, sondern den Charakter eines Menschen als das einzig Wichtige zu sehen. Nur das Wesen des Menschen zählt und da sollte sich ein jeder Mensch täglich selbst überprüfen. Mit den Worten „Ich wünsche euch allen einen atomfreien Tag“ verabschiedete sich der Berliner.

Die Jugendlichen der Marienschule zeigten sich sichtlich beeindruckt und waren an den Schilderungen des Zeitzeugen sehr interessiert. Nur schwer konnten sie sich diese Zeit vorstellen. Doch was im Schulbuch nur auf ein bis zwei Seiten steht, hatte nun ein Zeitzeuge ausgeführt und auf alle Fragen geantwortet sowie Anschauungsmaterial bereitgestellt.